Zahlen oder Intuition?

Mut zur Intuition und unge­wöhnlicher Kommuni­kation trotz allem Erfahrungs­wissen oder evidenz­basierter Werbung.

Mal wieder eine Kampagne mit Hallelujah-Bild? Nein, gleich zwei, die wir bei unserer letzten Wettbewerbs­recherche entdeckt haben. Hallelujah-Bilder nennen wir Bilder, bei denen ein Mensch (oft mit silbergrauem Haar) glücklich die Arme nach oben reißt, am besten noch an einen Strand bei Sonnen­untergang retuschiert. In den letzten zwei Jahren haben wir über 20 solcher Anzeigen gefunden. Aber selbst wir können uns kaum daran erinnern, welche Produkte damit beworben wurden. Nicht anders ergeht es den Ziel­gruppen. Die Absender können diese Werbung unter der Rubrik „raus­geworfenes Geld“ verbuchen.
Wie lässt sich das vermeiden? Wie weiß man, ob Werbung wirklich wirkt und die angestrebten Ziele erreicht? Wie kommt es, dass Marketing­manager, die doch mehr und mehr am Return on Investment gemessen werden, sich für solche austausch­baren Kampagnen entscheiden und sie oft mit viel Mediaspendings weltweit einsetzen.

Zahlenhype

Wahrscheinlich sind die meisten Hallelujah-Anzeigen in der Marktforschung getestet worden und haben gute Ergebnisse erzielt. Man verlässt sich heute ja fast nicht mehr auf eigene Erfahrungen oder die Meinung von Experten, sondern sichert sich mit Statistiken und Regelwerken ab.
Erfahrung und Intuition sind in letzter Zeit ganz allgemein ziemlich in Misskredit geraten. Der gesunde Menschenverstand gilt inzwischen als gar nicht so gesund. Und auch Expertenwissen steht nicht mehr hoch im Kurs. Kognitionsforscher haben die Unzulänglichkeiten unseres Gehirns, die sich in Trugschlüssen oder Attributionsfehlern zeigen, auch wissenschaftlich nachgewiesen. Vorurteile, Ablenkungen und vorgefasste Erwartungen verleiten den Einzelnen zu Fehlentscheidungen.
Statistiken und Zahlen erleben daher einen ungeahnten Hype. Man verlässt sich lieber auf Computerergebnisse (Börsenhandel), Automatisierung (Industrie), Statistiken (Politik), Clickraten (Kommunikation) und Leitlinien (evidenzbasierten Medizin). Das ist erst mal gut so, wenn nicht Statistiken und Zahlen und daraus abgeleitete evidenzbasierte Entscheidungen nicht auch ihre Schwächen hätten.
Bei der Marktforschung greift man zwar auch auf die Erfahrung von Menschen zu, aber man fragt viele Menschen, bildet statistische Mittelwerte und hofft damit weniger anfällig für Verzerrungen bei der Erinnerung, Wahrnehmung und Entscheidung zu werden. Wenn die richtigen Fragen gestellt und die Antworten richtig interpretiert werden, können solche Tests wertvolle Entscheidungshilfen sein. Aber genau in diesem „wenn“ liegt die Crux. Die Formulierung der Fragen, die Interpretation der Daten und Antworten fußt auf der persönlichen Erfahrung Einzelner, die wie oben beschrieben bewusst oder unbewusst zu recht unterschiedlichen (Trug-)Schlüssen führen können. Das Winston Churchill zugeschriebene „Trau keiner Statistik, die Du nicht selber gefälscht hast“ bringt das auf den Punkt.
Auch in der Mittelwert-, Durchschnitts- oder Medianberechnung liegt ein Problem verborgen. Bei weltweiter Marktforschung werden zum Beispiel oft große kulturelle Unterschiede deutlich, dann einigt man sich aber auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Das führt zu Durchschnitt. Durchschnitt schließt schon per Definition Herausragendes und Ungewöhnliches aus. Exzellente und innovative Ansätze geraten damit unter die Räder.

Auf der Suche nach Exzellenz

Exzellenz von Werbung ist nicht danach zu bewerten, wie das Publikum sie findet, sondern wie sie bei der Zielgruppe wirkt.
Die Wirkung von Werbung ist jedoch leider noch nicht ausreichend erforscht. Es handelt sich dabei um ein komplexes System, bei dem viele situative Einflussfaktoren mitspielen. Es gibt kaum systematische Untersuchungen, anders als in der Medizin, in der schon seit Jahrzehnten differenzierte, randomisierte und kontrollierte Studien durchgeführt werden, die eine Therapie mit anderen in Punkto Wirkung und Nebenwirkungen vergleichen.
S. Armstrong, ein Marketing-Professor in Wharton USA, hat ca. 3000 Studien experimenteller sowie empirischer Feldforschung und 50 Bücher mit theoretischen Erkenntnisansätzen zur Werbewirkung aus den unterschiedlichsten akademischen Disziplinen wie Psychologie, Soziologie, Betriebswirtschaft, Marketing, Marktforschung, Kommunikationswissenschaft und Verhaltensökonomie gesammelt. Sein Fazit: Fast keine der Studien erfüllt die Anforderungen an Nachvollziehbarkeit und genauer Definition der Ausgangsbedingungen. Dennoch versucht er auf Basis dieses Materials Prinzipien für wirkungsvolle Werbung zu formulieren. Er nennt das, in Anlehnung an die Medizin, „evidenzbasierte Werbung“. Einige der Ratschläge sind widersprüchlich, andere umstritten, wie zum Beispiel zum Umgang mit Furchtappellen, aber seine Regeln für wirkungsvolle Werbung in ausgesuchten Situationen sind die ersten, die wissenschaftlich abgesichert sind.
Auch andere arbeiten fieberhaft daran die Wirkmechanismen von Werbung zu erklären. Auswertungen unzähliger Aktionsdaten aus dem digitalen Umfeld liefern ebenfalls „Erfolgsrezepte“. Zum Beispiel untersuchen E-Mail Automatisierungsanbieter den Erfolg von E-Mails abhängig von der Formulierung der „Betreff-Zeile“. Zwar sagen Öffnungsraten noch nichts über tatsächliche Verhaltens- und Einstellungsänderungen aus, aber mit der geballten Macht von Big Data, Erfassungssoftware und der fortschreitenden Verfeinerung der Auswertungen, werden bald noch mehr smarte Insights gefunden werden.
Noch aber ist es noch nicht so weit, dass evidenzbasierte Werbung tatsächlich und nachweisbar bessere Ergebnisse bringt und Zahlen, Statistiken und die Wissenschaft die Wirkmechanismen vollständig erklären können.
Die neuere Hirnforschung liefert ebenfalls zunehmend Hinweise auf die Wirkung von Werbung. Demnach werden Kaufentscheidungen überwiegend durch implizite, intuitive Prozesse bestimmt. Daraus lässt sich auch eine Erklärung ableiten, warum so viele die Halleluja-Bilder lieben. Bilder von glücklichen Menschen erzeugen Sympathie, durch bestimmte Reize, die implizit (im Unterbewussten) wirken und durch den Abgleich mit unseren Erinnerungen ein Gefühl evozieren. Aber leider fehlt dabei ein zweiter Teil: Die Verankerung mit dem Produkt. Es ist ein Irrglaube, dass die Konsumenten durch viele glückliche Menschen in der Werbung denken „Ich muss diese Marke kaufen, damit ich auch glücklich bin“. Sympathie, Freude und Leben sind Botschaften, die von jeglicher Industrie oder Hersteller in Anspruch genommen werden können..

Ein Lob der Erfahrung und der Intuition

Es gibt noch kein standhaftes Bollwerk aus evidenzbasierter Werbung, das gegen alle systematische Denkfehler schützt. Solange keine richtig guten Studien da sind, sind wir immer noch auf das Erfahrungswissen, das Bauchgefühl und die Intuition der Experten angewiesen. Das ist trotz aller Einschränkungen im Vergleich gar nicht so schlecht wie Zahlen und Statistik–Fetischisten uns glauben machen wollen. Experten wissen sehr wohl, dass es bei Werbung einer klaren Differenzierung bedarf und dass die Produktverankerung notwendig ist. Kreative setzen ihre in vielen tausenden Tag- und Nachtstunden erworbene Erfahrungen und ihr Wissen intuitiv ein, um wirklich erfolgreiche Kampagnen zu schaffen. Dafür schätzen wir herausragende Kreative, ähnlich wie Ärzte, die für dieses Erfahrungswissen von Patienten geschätzt werden.
Die Intuition der Top-Kreativen sorgt dafür, dass neue, ungewöhnliche Lösungen gefunden werden. Evidenzbasierte Regeln dagegen unterstützen Gleichmacherei und Langeweile. Die Orientierung an dem, was sich angeblich in großen mit vielen Zahlen belegten Studien am wirksamsten erwiesen hat, führt letztendlich zu Normierung. Das ist in der Medizin gut, weil es mehr Sicherheit bringt, aber in der Kommunikation ist es eher kontraproduktiv. Wenn alle das Gleiche sagen und es auch noch gleich darstellen, wird nichts mehr wahrgenommen. Erfahrene Marketingmanager und Agenturleute wissen auch:
Wenn aus der Marktforschung kein Widerspruch kommt, dann gibt es keine richtige neue Idee. Gerade bei der heutigen Informationsüberflutung in allen Kanälen bedarf es innovativer, ungewöhnlicher Ideen, damit die Zielgruppen sich überhaupt interessieren. Zukunftsweisende Ideen entstehen nur, wenn jenseits gewohnter Dimensionen gedacht wird. Solche Ideen entstehen intuitiv, auch wenn im Hintergrund harte Arbeit, viel Erfahrung und eine gute Kenntnis der Alternativen stehen. Davor und danach setzen richtig gute Kreative und Strategen das Wissen aus Studien und Forschung ein. So sollte alles Neue an Bekanntem angedockt werde, denn nach der Neuroforschung (Schreier, der sich auf den Nobelpreisträger D.Kahneman bezieht) reagiert der Gehirnautopilot, der für schnelle, effiziente Informationsverarbeitung zuständig ist, hilflos auf komplett Neues, das er nicht in seine Schubladen einordnen kann.
Wir jedenfalls empfehlen keine Hallelujah-Bilder, sondern Mut zu Neuem, auch wenn die Marktforschung mal wieder den altbewährten kleinsten gemeinsamen Nenner favorisiert.

Erschienen in Healthcare Marketing, Dez. 2014 und auf der GWA-Healthcare Forums-Seite.

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