Augen zu und (trotzdem) dick?

Das aktuell diskutierte Werbeverbot bei Lebensmitteln, deklariert als Kindergesundheitsschutztherapie, basiert auf der Annahme: Was ich nicht sehe oder höre, existiert nicht. Eine „Zulassungsprüfung“, wie man sie von anderen Therapien kennt, legt aber den Schluss nahe, dass ein Werbeverbot keine effektive Behandlung darstellt.

Aus dem Bundesministerium für Ernäh­rung und Landwirtschaft (BMEL) gibt es den Gesetzesentwurf zur Bekämpfung von Übergewicht unter dem Titel Kinder­-Lebensmittel­-Werbegesetz, in dem ein umfassendes Werbeverbot für ca. 80 Pro­zent aller Lebensmittel vorgesehen ist. Die Bekämpfung von Übergewicht und Adipositas bei Kindern ist eine gesamtge­sellschaftliche Aufgabe. Wie jedoch ZAW und Werberat, in dem ich seit vielen Jahren Mitglied bin, verdeutlichen, gibt es dafür keine einfachen Lösungen und schon gar kein Allheilmittel. Ich möchte den Werbeverbotsvorschlag noch mal unter dem Gesichtspunkt betrachten, dass das eine Intervention in unser gesell­schaftliches Gesamtsystem darstellt, die wie jedes Heilmittel oder jede Therapie vor Zulassung gründlich geprüft werden sollte.

Wohlfeiler Therapievorschlag

Laut WHO nimmt Übergewicht und Adipositas mit fast 30 Prozent zu dicken Kindern in Europa epidemische Ausmaße an. In Deutschland gibt es nach RKI 16 Prozent Kinder und Jugendliche mit Übergewicht, sechs Prozent sind adipös. Krankenkassen berichten von durchschnittlich knapp vier Prozent juve­nilen Adipositasdiagnosen und bis zu 15 Prozent bei Jugendlichen aus sozial schwachen Schichten. Aber unabhängig von der genauen Zahl: Hohes Über­gewicht stellt ein großes chronisches Gesundheitsrisiko dar. Und für Adiposi­tas gilt: Jedes einzelne fettleibige Kind ist eines zu viel. Darin sind sich alle Betei­ligten einig.

Einige Akteure, darunter Ärzte, Ver­ braucherschützer, Politiker, stürzen sich daher gerade auf den vermeintlich nahe­liegenden Therapievorschlag „Werbever­bot“, ohne Klarheit, ob dieser überhaupt wirkt oder unerwünschte Nebenwirkun­gen hat. Der Entwurfsvorschlag aus dem Ernährungsministerium sieht dabei ein Werbeverbot für 70­-80 Prozent aller Lebensmittel vor, die damit pauschal als ungesund eingestuft werden, unabhän­gig, wieviel davon der Einzelne verzehrt. Die Seh­-und Hör­verbotsmaßnahme soll zudem nicht zielgerichtet eingesetzt werden, sondern gilt fast rundum die Uhr und für fast alle Kanäle und trifft damit alle Zielgruppen, Erwachsene genauso wie Kinder. Ein Rundum­schlag­-Werbeverbot spricht allen mündigen Bürger:innen Eigenverantwortung und verantwortungsvollen Genuss ab.

Keine Evidenz für Wirkung

Werbung kann zwar in gesättigten Märk­ten eine Marktverschiebung zwischen unterschiedlichen Produkten bewirken, aber Nichtwerbung führt nicht dazu, dass Kinder plötzlich keine Süßigkeiten mehr konsumieren, solange es dieses Angebot gibt. Selbst das BMEL muss zu­geben, dass es keine evidenzbasierte Stu­die zur Wirkung von Werbeverboten auf Adipositas gibt. Statistiken zeigen dage­gen, dass sich in Deutschland während der Pandemie Übergewicht und Adi­positas bei Kindern und Jugendlichen erhöht haben, obwohl der Werbedruck stark gesunken ist. In Ländern, in denen es schon lange Werbeverbote gibt, zum Beispiel Chile oder Großbritannien, ist Adipositas unter Jugendlichen nach wie vor um ein Vielfaches höher als bei uns. Das spricht eine klare Sprache zur Nicht­-Wirksamkeit von Werbeverboten.

Gefährliche Nebenwirkungen

Pauschale Werbeverbote haben anderer­seits bedenkliche Nebenwirkungen: Sie entziehen der freien Presse einen zentra­len Baustein ihrer Finanzierungsgrund­lage. Dafür bringen sie diese für unsere Demokratie und gesellschaftliche Bil­dung wichtige Säule in echte Existenz­not. Gerade in Ernährungsfragen sind der Erhalt unabhängiger Aufklärung und Information elementar für die öffentliche Diskussion und Entwicklung der Gesellschaft. Das geplante Werbe­verbot betrifft ca. 80 Prozent aller Lebensmittel: Damit drohen der Medien­welt Bruttowerbeverluste in Höhe von rund drei Milliarden Euro.

Ein solch umfassendes Werbeverbot wie im Entwurf vorgeschlagen, bringt zu­ dem viele mittelgroße, nationale Lebens­mittelhersteller buchstäblich in „Lebens­gefahr“. Die Regulierung zementiert die Vormachtstellung großer multinationa­ler Anbieter, gilt sie schließlich nicht für Herstellerfirmen, die ihren Sitz nicht in Deutschland haben. Die marktbeherr­schende Stellung heimischer Unterneh­men festigt es nebenbei auch, denn ohne Werbung kein Wettbewerb. Allen kleineren und mittelgroßen Anbietern, die durch die Krise der letzten Jahre ohne­hin schon schwer genug gebeutelt sind, drohen daher starke Einbußen bis hin zur Insolvenz. Das setzt eine irrsinnige Abwärtsspirale in Gang und bedroht unseren gesellschaftlichen Wohlstand, der auf unserer sozialen Marktwirt­schaft fußt.

Behinderung anderer Therapien

Durch Werbeverbote fehlen wichtige Mittel für Bildungsinitiativen und Breiten­sport, die nach Expertenmeinung wohl am besten wirkenden Mittel gegen Adi­positas. Nicht nur den Medien, auch dem ohnehin klammen Vereinssport wird die Finanzierungsgrundlage entzogen, denn das geplante Werbeverbot beinhaltet unter anderem das Verbot von Spon­soring. Das würde man in der Medizin wohl als Kontraindikation werten. Bundesminister Cem Özdemir sagte im Februar, dass er in erster Linie darauf abzielt, dass die Lebensmittelindustrie ihre Rezepturen reformiert. Gerade diese Hoffnung wird durch das geplante umfas­sende Werbeverbot jedoch konterkariert, denn ohne Werbung können durch inno­vative Rezepturen verbesserte Produkte nicht in den Markt gebracht werden.

Das Ministerium setzt wohl auf Werbe­verbote, weil das für den Staat kosten­los zu sein scheint. In der Realität ist für unsere Gesellschaft ein solch umfassen­des Werbeverbot durch wegbrechende Steuereinnahmen und Arbeitsplätze in Lebensmittelindustrie und Medien die vielleicht teuerste Medizin von allen. Auf Basis der vorangegangenen Punkte ergibt sich die Folgerung: Diesem für die Problemlösung der Adipositas wirkungs­losen, ja sogar kontraproduktiven und kontrainduzierten, aber mit vielen nega­tiven Nebenwirkungen für das Gesamt­system verbundenen Therapievorschlag sollte die Zulassung verweigert werden.

Vielfältige andere Ansätze

Leider gibt es nach wie vor keine schnell wirksame Wunderheilung, wie es die BMEL­ Antragsteller sich wünschen und der Welt versprechen. Wie bei so vielen anderen Krankheiten müssen wir als Gesellschaft mühsam weiter an vielen Schrauben drehen, angefangen bei der Förderung der medizinischen Forschung und des Breitensports, über Aufklärung und Bildung zu Ernährung und einem ak­tiven Lebensstil bis hin zu einem besseren und gesünderen Essen in Kitas und Schul­kantinen. Gerade Letzteres und Bewe­gung können wirkmächtige Hebel in der am meisten betroffenen Zielgruppe sein. Hierzulande optimieren übrigens viele Lebensmittelhersteller schon freiwillig ihre Rezepturen und versuchen dabei, Geschmack und Haltbarkeit zu erhal­ten. Auch die werbetreibende Industrie entzieht sich nicht ihrer Verantwortung. So hat sie sich bereits selbst schon vor längerer Zeit zu Werbeeinschränkungen für stark zucker-­, fett­- und salzhaltige Lebensmittel im Umfeld von Kindersen­dungen verpflichtet und hat die inhaltli­chen Verhaltensregeln 2021 noch einmal verschärft. Und das ist doch schon alle­mal besser, als zu glauben, dass man mit Werbe­-, Seh­-, Hör­- und Denk­Verboten eine bewusstere Ernährung erreicht.

Autorin

Ingrid Wächter-Lauppe

CEO der Agenturgruppe Wächter Worldwide Partners

Ingrid Wächter-Lauppe ist CEO der Agenturgruppe Wächter Worldwide Partners in München, Board-Mitglied von Worldwide Partners Inc, einem globalen Netzwerk eigentümergeführter Agenturen mit mehr als 1.000 auf Health- care spezialisierten Mitarbeitenden und Mitglied im ZAW-Präsidialrat und dem Deutschen Werberat.

Quellen: *Veröffentlichungen des ZAW und Werberates https://zaw. de/fakten­lebensmittelwerbung/) und in deren LinkedIn­ kanal https://www.linkedin.com/company/der­zaw/