Social Media – Das Medium mit Potenzial
Social Media entzweit im Pharmamarketing immer noch. Dabei gibt es zwei Lager: Diejenigen, die die neue, digitale Welt als Chance und als für die Kommunikation nutzbares Instrumentarium verstehen, und jene, die am liebsten mit Social Media nichts zu tun haben wollen.
Starke soziale Interaktion im Netz
Letztere werden jedoch mehr und mehr in die Ecke gedrängt, denn soziale Interaktion findet im Netz statt, ob das die Pharmaindustrie will oder nicht. Teilnehmer sind nicht nur die Digital Natives, die sich das Leben gar nicht mehr ohne Netz vorstellen können, sondern auch viele Ältere. Gerade im Gesundheitsbereich bewegen sich überwiegend „silver surfer“ im Netz: Sie suchen nach Informationen über Medikamente, nach Behandlungsempfehlungen, nach Ärzten und nach emotionaler Unterstützung! Sie pflegen oft intensiven Austausch mit anderen Patienten.
Wie stark zeigt zum Beispiel ein Blick auf das Portal „Sanego“, eines von vielen und noch nicht mal das größte im Medizinbereich. Zum Zeitpunkt der Abfrage (Mittwoch, 20.5.2015, 14:48 Uhr) waren sage und schreibe 1.692 Nutzer online! Hier die neuesten „Sanego“-Posts:
– vor 1 Stunde „Clarithromycin“ (Lungenentzündung, Bronchitis): „Ich musste aufgrund einer sich nicht bessernden Bronchitis und beginnender…“
– vor 2 Stunden „Pantoprazol“ (Magenschmerzen): „Wegen Magenschmerzen (vermutlich Gastritis, Spiegelung steht noch aus) bekam ich die 40mg…“
Ohne auf die genannten Indikationen, Wirkstoffe und Medikamente näher eingehen zu wollen, weil sie nur einem zufälligen Life-Scan des Portals „Sanego“ entnommen sind: das sind keine Einzelfälle. Alleine die Sanego-Nutzer haben 795.871 Fragen gestellt und anderen 229.789 Antworten gegeben. Dabei sind die häufigst genannten Medikamente „Citalopram“, „Mirena“, „Trevilor“, „Mirtazapin“, „Cipralex“, „NuvaRing“, „Lyrica“ und „Seroquel“; die häufigst im Portal behandelten Krankheiten Depression, Empfängnisverhütung, Angststörungen, Bluthochdruck, Schmerzen (akut), Psychose u. Kopfschmerzen.
Dialog mit Ärzten gut – mit anderen schwach
Die Pharmaindustrie nützt leider die in diesen Daten verborgenen Schätze noch nicht genügend und noch weniger die Dialogchancen, die Social Media bietet.
Gewiss – die meisten Pharma-Unternehmen sind schon in den sozialen Netzwerken aktiv, sogar mehr als in manch anderen Branchen. Aber dabei wird in erster Linie der Dialog mit dem medizinischen Fachpersonal gepflegt, in Erfahrungsaustauschportalen wie doc.check und anderen geschlossenen Gemeinschaften wie z.B. coliquo.de. Dort haben sie für das Fachpersonal auch viele interessante Angebote: Fortbildung, Therapiemöglichkeiten, Forschungsergebnisse / klinische Studien und Krankheitsbilder. Das begrüßen die Ärzte. Nach Harris IT befürchtet nur eine Minderheit an Ärzten (7%) eine Manipulation bzw. Beeinflussung des Internets von Seiten der Pharmaindustrie.
Listening ja, aber viele Bedenken gegen Daten
Auch beim Zuhören „Listening“ ist die Pharmaindustrie zum Teil schon ganz gut unterwegs. Aber eben nur zum Teil. Noch mal zum Sanego Portal: Es wurden 360.992 Bewertungen über Ärzte – immerhin einer der wichtigsten Kommunikationspartner der Pharmaunternehmen – abgegeben. Dass das natürlich auch die Ärzteschaft interessiert ist kein großes Wunder. So haben sich auf dem „Sanego“-Portal – wie gesagt, nur eines von vielen – 2.476 Ärzte angemeldet, die die jeweiligen Posts und Bewertungen entweder lesen oder sogar aktiv beantworten. Detailauswertungen lassen erkennen, dass von den Berliner Hausärzten zum Zeitpunkt der Analyse (wiederum am 20.5.2015) 40% mit durchschnittlich 8,1 bewertet wurden. Die Pharmaindustrie kann daraus ein Marketingszenario für den Außendienst kreieren, wenn sie das kostenfrei zur Verfügung stehende Instrumentarium der Social Media nicht nur als Problem sondern als Chance begreift.
Bedenken, ja zum Teil sogar Ängste bestehen beim „Listening“ gegen die Validität der Daten, die von Patienten geliefert werden. Posts können nicht nur negativ sein, sie können auch total falsch sein! Diese Posts können jedoch auch einen wichtigen Hinweis auf unerwünschte Nebenwirkungsprofile enthalten, die als Art Frühwarnsystem verstanden werden können, denn bis UAWs von Patienten an Ärzte und Apotheker an die jeweils etablierten Systeme gemeldet sind, dauert das seine Zeit. Zeit, die ein Unternehmen nützen könnte, wenn es denn davon weiß. Wissen ist hier – wie so oft im Leben – der Schlüssel zur Aktion.
Monitoring und detaillierte Datenanalysen bieten gute Erkenntnisse
Online Analyse-Tools bieten erste Übersichten über heiße Themen auf den Plattformen. Aber um die Informationen wirklich auszuwerten, um gefakte Mitteilungen, tendenzielle Kommentare von Aktivisten oder Gruppen mit bestimmtem Interessen auszuschließen und um ungenaue, unvollständige, nicht verifizierte Informationen von verunsicherten oder unzufriedenen Patienten herauszufiltern braucht es immer noch qualitative, manuelle Auswertungen. Es gibt jedoch eine Reihe von qualifizierten Beratern und Pharmaunternehmen, die die Streu vom Weizen trennen können und sich damit einen Zeit- und Wettbewerbsvorteil erarbeiten. Zusätzlich hilft das Wissen über die Wünsche der Patienten oder Behandlungsgewohnheiten von Ärzten datengetriebene Geschäftsmodelle zu ergänzen. Das Wissen über das eigene Image gibt Anregungen zu Verbesserungen in der Kundenorientierung.
Zurückhaltung beim Talking
Wenn es um das „Talking“ in social media geht, um den Dialog, dann ist die Pharmaindustrie noch zurückhaltend. Das erklärt sich daraus, dass die pharmazeutische Industrie zu den am stärksten reglementierten Branchen gehört. Das HWG, nicht präzise FDA Regelungen und strikte Compliance-Anforderungen halten die Unternehmen davon ab, auf den Zug aufzuspringen. Die fehlende Möglichkeit, unkorrekte oder unangemessene Kommentare zu moderieren ist eines der größten Hindernisse für das Engagement in Social Medien wie Facebook.
Patientenforen erfolgreich
Das geht leichter in Patientenforen (meist nach Registrierung zugängig), die oft von Pharmaunternehmen eingerichtet oder unterstützt werden. Es gibt eine Reihe von sehr guten Beispielen, bei denen Hilfen angeboten werden ohne eine ethisch zweifelhafte Ferndiagnose zu stellen, bei denen Betroffene und Interessierte ebenso wie Ärzte Fragen stellen, sich untereinander austauschen oder direkt Kontakt zum Unternehmen aufnehmen können. In den erfolgreichen Foren wird offen mit kritischen Fragen und Anliegen der Patienten und Ärzte umgegangen. Sind aufgrund der Einschränkungen des HWG´s direkte Reaktionen nicht erlaubt, wird dort mit entsprechender Offenheit auf andere Kommunikationskanäle (Arzt, e-mail) verwiesen.
In diesen Foren und Patientenbetreuungsprogrammen können Patienten zu mehr Therapietreue und gesünderer Lebensweise animiert werden. Es gibt schon erste Studien, die die Wirksamkeit belegen. So berichtet z.B. sciencedirect, dass Teilnehmer einer Epilepsie Community die gewünschte emotionale Unterstützung erlebten, weil sie andere mit dem gleichen Krankheitsbild kennengelernt und Freunde gefunden haben. Sie lernten mehr über Symptome, Krankheit und Behandlung, konnten besser mit Nebenwirkungen umgehen und 27% verbesserten ihre Adhärenz. In einer Studie von Prof. Friedrichsen bestätigen sogar 52,1 % der forennutzenden Patienten eine bessere Adhärenz hinsichtlich ihrer Medikamenteneinnahme.
Gut gemanagte Projekte in allen Social Media möglich
Es gibt auch erfolgreiche Aktivitäten von Pharmaunternehmen auf traditioneller Social Media wie Facebook oder Twitter. Allerdings sind viel Fingerspitzengefühl und Rechtskenntnisse nötig, eine gute Planung und Investment in Personal oder Berater. Mit Notfallplänen für Krisen, die im Fall von Social Media eher ein Bündel an Zugängen und gut beleumundete und aktive Accounts auf den wichtigsten Portalen sein müssen, lassen sich Shitstorms vermeiden oder erfolgreich begegnen.
Wir empfehlen unseren Kunden Social Media fest in ihr Cross Channel Programm zu integrieren, wenn angebracht, Patientenforen zu unterstützen und ein Patientenprogramm zu pflegen und zusätzlich einen „secure social“-Workflow einzuführen, ähnlich der früheren „Krisen-Kommunikation“ in der PR:
Alle Portale, Foren und Blogs werden durch automatisierte „Spider“ und manuell nach bestimmten Schlagworten (Wirkstoffe, Marken, Indikationen, Anwendungsgebiete, Nebenwirkungen, Wirkprofile, Beschwerden, Ängste, Erfahrungswerte, aber auch Lob) gescannt, gewichtet, negative Berichte sowie deren Urheber identifiziert, wiederum gewichtet und – bei Überschreiten einer vorab definierten Gefährdungsschwelle – mit adäquaten Gegenmaßnahmen erwidert. Und – das ist das Neue am „social“- Workflow – sofort mit geeigneten Pro- oder Kontra-Botschaften hinterlegt, die ein Team aus Wissenschaftlern, Rechtsanwälten und erfahrenen Ärzten erarbeitet und dem im jeweiligen Unternehmen verantwortlichen Manager zeitnah zur Verfügung stellt. Social Media hält sich leider nicht an die bei internationalen Unternehmen in der Regel sehr langen Freigabe-Prozeduren, sie funktioniert oft im Minutentakt! Daher sind nach der Zieldefinition und der Strategiefestlegung ein Risiko-Konzept, eine Ressourcenplanung und Schulung weitere wichtige Schritte in dem „Secure-Social Prozess“, die Erfolgsmessung ist nicht zu vergessen.
Dieser Artikel ist in Healthcare Marketing 7, Juli 15 unter der Rubrik: „Über den Tag hinaus denken“ erschienen und wird auch auf der GWA Healthcare Forumsseite abgedruckt.
Autorinnen
Ingrid Wächter-Lauppe
Geschäftsführerin
Ingrid Wächter-Lauppe ist Geschäftsführerin und Inhaberin der Wächter & Wächter Worldwide Partners Gruppe und bietet die Beratung im Social Media Bereich mit Gaby Perfahl in Zusammenarbeit mit Partneragenturen aus der Gruppe, dem internationalen Network Worldwide Partners und weiteren Spezialisten an.
www.worldwidepartners.com/healthcare-network
Gaby Perfahl
Client Service Director
Gaby Perfahl ist bei Wächter & Wächter Client Service Director. Sie ist Social-Media-Spezialistin und betreut ausgewählte Rx-Präparate im Social Web. Sie zeichnete in den letzten Jahren für die Reputation von 12 Kliniken und über 200 Ärzten in den Sozialen Medien verantwortlich.